Rothenberg. Einer, der weiß, was in Rothenberg die Stunde geschlagen hat, ist Thomas Wilcke. Der pensionierte Schulleiter und passionierte Heimatforscher kennt die Hintergründe eines allabendlichen Glockenläutens vom Turm der evangelischen Kirche, das Jahr für Jahr nur in der dunklen Jahreszeit erklingt und nun bald wieder beginnt: Von November bis Februar nämlich läutet dort um 20 Uhr für drei Minuten eine Glocke. "Der Hintergrund ist ein tragischer", weiß Wilcke. Wobei es zwei Versionen gibt - eine, die auch tragisch endet, und eine, die letztlich gut ausgeht. Beiden gemeinsam ist, dass ein Mann in einer eiskalten Winternacht in Schnee und Sturm im Wald Weg und Orientierung verloren hatte.
"Die eine Version besagt nun, dass der 80-jährige Johannes Beisel im Februar 1901 von Ober-Hainbrunn kam und jämmerlich erfroren ist", sagt Wilcke. Am 17. Februar fand man seinen Leichnam, ihm hatte in der Kälte die Stunde geschlagen. Dann wäre das spätere Läuten sozusagen eher ein Erinnerungs- und Mahnsignal in dieser Jahreszeit, das auch dabei helfen könnte, fortan solch ein Unglück zu vermeiden - wäre doch der Glockenklang zugleich ein akustischer Wegweiser in Richtung Dorf.
Die zweite Version über "das Einläuten der Nacht zur Winterzeit" ist in Wilhelm Moters 1954 erschienener Schrift 'Eine Reise in die Vergangenheit: Rothenberg - Die Geschichte eines hessischen Dorfes im südlichen Odenwald' überliefert. Sie besagt, dass "von hochbetagten hiesigen Einwohnern" berichtet wurde, dass ebenfalls vor langer Zeit bei einem winterlichen Unwetter ein (namenloser) Mann im Wald verirrt gewesen sei. Der Sturm blies derart heftig auch durch die Schallläden am Kirchturm, dass er die kleinste der Glocken in Schwingung versetzte und zum Läuten brachte. Dies habe dem Mann den Weg Richtung Rothenberg gewiesen und ihm so letztlich auch das Leben gerettet. Womöglich habe er sogar eine Stiftung für dieses Läuten gegründet. Es gebe indessen, so räumt Moter ein, darüber nichts Urkundliches.
Wie auch immer es sich genau zugetragen hat - sicher ist, dass deswegen die Glocke in den Wintermonaten abends läutet. Und solch ein Brauch reicht unmittelbar aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart hinein und bringt gleichsam Geschichte zum Klingen, erinnert an tragische Ereignisse und gemahnt auch in Zeiten von Navis an eine gewisse Wachsamkeit.
Von kirchlichem und weltlichem Läuten
Vor allem rufen Kirchenglocken zu Gottesdiensten beziehungsweise zum Gebet. Jede Kirchengemeinde hat dazu ihre eigene Läute-Ordnung. Weithin bekannt ist etwa das Vaterunser-Läuten während des Gottesdienstes: Wenn das 'Gebet des Herrn' dort gerade gesprochen wird, geht dies als Signal ins Land hinaus, damit diejenigen, die nicht im Gottesdienst dabei sein können - vielleicht wegen Krankheit oder Alter oder arbeitsbedingt -, dieses für Christen so zentrale Gebet mitsprechen und sich auf diese Weise mit der Gemeinde verbunden wissen können. In vielen Kirchen gibt es dafür auch eigens eine, meist kleinere, Vaterunser-Glocke.
Darüber hinaus aber existiert neben diesem kirchlichen auch ein weltliches Läuten; dazu gehören solche Signale wie die des Winterläutens in Rothenberg. In vielen Gemeinden erinnert auch um elf Uhr vormittags eine Glocke daran, dass in einer Stunde Mittag ist - ein Signal, das in früheren Zeiten die Menschen, die auf den Feldern oder in den Wäldern arbeiteten und keine Uhr hatten, auf die bevorstehende Mittagspause hinwies. Dementsprechend gibt es mancherorts am Nachmittag auch eine Feierabendglocke. Wobei das mit dem Mittagsläuten die spätere Umdeutung eines ursprünglich ziemlich weltlichen und aus heutiger Sicht eher kuriosen oder auch befremdlichen Anliegens ist: Ein Papst verfügte im fünfzehnten Jahrhundert, um Mittag sei dafür zu beten, dass es gelingen möge, im Krieg die Türken zu besiegen.
Und obwohl das Winterläuten in Rothenberg eher der Kategorie 'weltlich' zuzuordnen ist, legte man den Zeitraum doch mit einem deutlich kirchlichen Bezug fest, weiß Pfarrer Reinhold Hoffmann: zwischen dem Geburts- und dem Todestag des Reformators Martin Luther nämlich, also zwischen dem 10. November und dem 18. Februar.
Bernhard Bergmann
25.10.2025